Tomas Venclova
Tomas Venclova (*1937 in Memel/Klaipėda) ist ein litauischer Lyriker, Prosaist und Literaturkritiker und der renommierteste Vertreter der litauischen Kultur. Er ist emeritierter Professor für slawische Literatur der Yale University und Ehrendoktor der Universität Lublin. Zusammen mit seinen engen Freunden, den Nobelpreisträgern Czesław Miłosz und Joseph Brodsky, gehört er zu einer Generation einflussreicher literarischer Figuren Osteuropas, die die Erfahrung totalitärer Regimes in eine klare poetische Form gefasst haben. Während der Sowjetzeit war der Dichter in der Dissidentenbewegung aktiv; 1977 emigrierte er in die USA, wo er bis 2019 gearbeitet und gelebt hat.
Venclova ist Träger zahlreicher internationaler Auszeichnungen für Poesie und des Litauischen Nationalpreises für Kunst und Kultur (2000). Er hat zahlreiche Werke bekannter Dichter ins Litauische übertragen, darunter von T. S. Eliot, W. H. Auden, Charles Baudelaire, Saint-John Perse, Boris Pasternak, Anna Achmatova, Joseph Brodsky, Czesław Miłosz und Wisława Szymborska. Darüber hinaus verfasste er Lyriksammlungen und Übersetzungen, Essays und Artikel. Seine Gedichtbände erschienen unter anderem in deutscher, englischer, italienischer, schwedischer, russischer, polnischer, ungarischer und chinesischer Übersetzung.
Einer seiner bekanntesten Auswahlbände, The Junction (Bloodaxe Books, Großbritannien 2008), vertritt einen für die zeitgenössische Poesie außergewöhnlichen moralischen Tiefgang. Venclovas Lyrik spricht die desolate Landschaft an, die der Totalitarismus hinterlässt, aber auch die ethischen Konstanten, die Hoffnung und Durchhaltevermögen möglich machen. Zuletzt veröffentlichte er zusammen mit seiner amerikanischen Schriftstellerkollegin das Buch Der magnetische Norden. Gespräche mit Ellen Hinsey (Suhrkamp 2017, übersetzt von Claudia Sinnig). Inspiriert von Büchern wie Gespräche mit Czesław Miłosz (Rozmowy z Czesławem Miłoszem) und Aleksander Wats Klassiker Mein Jahrhundert (Mój wiek), verflechten sich darin litauische Geschichte, Literatur und Widerstandsbewegung mit Venclovas eigenem Leben und Werk. In Der magnetische Norden erstattet er tiefgründig Bericht über ethische Entscheidungen und künstlerische Verweigerung des Totalitarismus, die ein halbes Jahrhundert umfassen. Mit seinen Details über Venclovas künstlerisches Werk erweitert es unser Verständnis von der Bedeutung dieses Schriftstellers, dessen Bücher in der zeitgenössischen europäischen Kultur an zentraler Stelle stehen.
Joseph Brodsky hat die Poesie seines Dichterkollegen als eine Form des Widerstands gegen die Realität bezeichnet. Im Kern der intellektuellen Lyrik Venclovas steht ein existenziell denkender Verstand, der verschiedene Sphären von Raum und Zeit vereinigt. Sein Verlangen, das eigene Schicksal als Emigrant zu begreifen, verrät eine archetypische Verbindung zwischen dem Dichter als modernem Mann und den Helden der Antike, vor allem Odysseus und seiner Sehnsucht nach Ithaka. Einer seiner bekanntesten Essays, ein Dialog mit Czesław Miłosz, trägt den Titel Vilnius als Form spirituellen Lebens.